Ich habe eine Essstörung. Ich habe therapeutische Hilfe in Anspruch genommen, nicht nur über ein paar Wochen. Sondern über Jahre. Ich gehe damit offen um, zunächst, um Prävention zu betreiben, aber auch, weil es mir geholfen hat, offen damit umzugehen. Weil es auch mir leichter fällt, das alles zu akzeptieren. Eine Essstörung verläuft in den seltensten Fällen linear, es äußert sich nicht dadurch, dass man irgendeine Art von Gemüse nicht mag oder sich vor Fleisch ekelt, es handelt sich hierbei um eine psychische Krankheit, die man im Sucht-Segment ansiedelt. Ähnlich wie ein Alkoholiker – dieser lässt, um trocken zu sein, den Alkohol weg. Aber wie funktioniert dies bei essgestörten Menschen? Wir können ja nicht das Essen bleiben lassen. Bei den Menschen mit einer klassischen Essstörung wie beispielsweise Anorexie oder Bulimie wird in der Therapie vor allem daran gearbeitet, sich nicht mehr zu intensiv mit Nahrung und Ernährung zu beschäftigen. Doch hier liegt die Krux, wenn es um Menschen wie mich geht. Menschen mit Diabetes und einer Essstörung.
Sich mit Diabetes keine Gedanken ums Essen machen? Geht nicht!
Wir werden uns immer intensiv mit unserer Nahrung und Ernährung beschäftigen müssen. Meine „Laufbahn“ begann mit „Binge-Eating“ in der Kindheit: Wenn ich mich emotional im Ungleichgewicht befand, stopfte ich alles willkürlich in mich hinein. Durch meine Diabetes-Diagnose wurde die Affinität zum Essen verstärkt. Die ganzen verbotenen Nahrungsmittel, die Einschränkungen sorgten dafür, dass ich noch mehr Druck verspürte und immer mehr in mich hineinstopfte. Dies wirkte sich natürlich auch auf mein Gewicht aus, ich war schon immer übergewichtig, doch nun schienen Gewichtszunahmen unausweichlich. Rund drei Jahre nach meiner Diagnose schlitterte ich in die nächste Essstörung, die Diabulimie. Diese fand ihr Ende auf der Intensivstation mit zwei Wiederbelebungsversuchen und noch 42 kg Körpergewicht. Was darauf folgte, waren vier Monate auf der Intensivstation. Seitdem sind rund 18 Jahre vergangen. Diese Jahre waren geprägt von verschiedenen Therapien und Therapeuten, aber vor allem von ständigen Höhen und Tiefen meiner Essstörung. Ich habe immer wieder mit meinem Körper gekämpft, immer abhängig von meiner emotionalen Verfassung und meinem Stresspegel.
Die Essstörung bleibt
Heute weiß ich: Die Essstörung wird mich nie ganz verlassen, sie wird immer ein Teil von mir sein. An manchen Tagen ganz ruhig und dann an manchen Tagen ganz laut. Aber seit rund einem Jahr ist sie zum Glück nur noch in meinen Gedanken und danach handle ich nicht mehr.
Mein größtes Problem, mit dem ich mich konfrontiert sehe, ist aber das Außen. Die Gesellschaft. Die Menschen, mit denen ich in Kontakt stehe, etwas Neues, Bewerbungsgespräche, fremde Leute. Ich muss zugeben, dass vieles davon nur in meiner Fantasie stattfindet, aber dann gibt es auch Dinge, die einen komplett aus der Bahn werfen, die real sind. Wenn ich beispielsweise meine Geschichte erzähle und als Antwort zu hören bekomme, ich sehe aber gar nicht so aus – für mich ein Schlag in die Magengrube. Mein erster Gedanke war: Ich bin zu fett, niemand glaubt mir meine Erlebnisse, weil ich viel zu dick bin. Was hier in wenigen Sekunden in meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Seele passiert, ist zunächst unaufhaltsam, aber ich habe gelernt, es für mich in Einklang zu bringen. Es kostet mich jedoch viel Energie und Zeit.
Das Gegenteil von gut…
Nun stelle ich mir vor, dass so etwas nicht nur mir täglich passiert, sondern auch anderen Erkrankten. Sei es mit dem Diabetes: „Siehst gar nicht so aus! Du bist doch noch so jung…“, oder bei Depressionen: „Du bist doch ein junges, hübsches Mädchen, geh doch mal in die Sonne, geh doch tanzen, hab doch Spaß!“ Da stelle ich mir dann doch manchmal die Frage, ob diese Leute auch zu jemandem mit einem beispielsweise Blinddarmdurchbruch sagen würden: „Ach komm, ich mache ein Pflaster drauf, das wird schon wieder.“ Würden sie jemandem von einer OP eines komplizierten Bruchs abraten, weil das schon irgendwie wieder zusammenwächst?! Ich habe das Gefühl, dass in Deutschland das Verständnis und vor allem die Empathie für psychische Krankheiten fehlen und als nicht wichtig angesehen werden. Ich wünsche mir, dass daran gearbeitet wird. Ich wünsche mir, dass jeder, der diesen Text liest und, egal, ob er betroffen oder auch nicht direkt betroffen ist, darüber nachdenkt, ob mehr Empathie uns allen nicht guttun würde.